I GOTTA HUMAN FACE, 2023, exhibition text by Luisa Seipp, (deutsch)

n o u v e a u x d e u x d e u x

Benedikt Hipp

I GOTTA HUMAN FACE

8. September – 21. Oktober 2023


Ausstellungstext von Lusia Seipp

Autopoiesis stammt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „Selbstherstellung“ und

„Selbstorganisation“. In der Systemtheorie ist damit die Hervorbringung von etwas als Werk

seiner selbst gemeint, die Produktion eines lebenden Systems aus dem Netzwerk der

Elemente, aus denen es besteht.

Der Münchner Künstler Benedikt Hipp sieht in diesem Ansatz eine Parallele zu sich, zu uns,

zur Gesellschaft in der wir leben. Versuchen wir immer, uns durch die Einflüsse von Außen zu

verändern, liegt doch unser größtes Potenzial zur Veränderung in uns selbst, unserem

Inneren. Ähnlich wie das geologische Phänomen des Diapirismus – mächtige

Salzgesteinstrukturen, die innerhalb des Erdmantels entstehen und langsam in übergelagerte

Schichten durchdringt, diese deformiert und kegelförmig in den Himmel erwachsen lässt.

In der Herstellung von Keramikarbeiten, die einen bedeutenden Teil seines Schaffens

ausmachen, findet Hipp eine ähnlich archaische Herangehensweise. Durch das Formen des

Tons und dem Entfachen des Feuers kann er den Produktionsprozess zwar beeinflussen, das

letztendliche Ergebnis liegt jedoch in zufallsgesteuerten Synergien und Urkräften des Feuers

und ist für Hipp nicht genau bestimmbar. Durch den Brennvorgang und das über mehrere Tage

lange Erhitzen auf bis zu 1.300 Grad Celsius, verschmelzen die Mineralien der Asche und

legen sich als mal als glänzend porzellanartige Glasur, mal als raue und dunkel eingebrannte

Stellen auf der Oberfläche des Tons ab. Auch hier entscheidet der Zufall über die

Oberflächenstruktur der Skulpturen. Sie ist unvorhersehbar, umschließt die Skulptur in einer

mystischen, glänzend bis roh und aufgerauten Hülle aus Blau, Grün, Grau mit dunklen

Maserungen und Musterungen. Hipp erklärt, dass das Wechselspiel von Oxidation und

Reduktion entscheidend über das Farbspiel der Glasur ist. Bei der Oxidation entstehen eher

warme rot-braune Töne, während die Reduktion die Farbe von weiß über zartblaue, grünliche

oder metallisch schimmernde Töne wechseln lässt.

In der Keramik gibt sich der Künstler einem Prozess hin, der fortwährendes Lernen erfordert.

Lernen, den natürlichen Urkräften des Universums ihren Lauf zu lassen, festgefahrene

Vorstellungen zu Staub verfallen und neue Systeme und Dynamiken entstehen zu sehen. Das

Faszinierende an der Keramik ist für Benedikt Hipp ihre fluide Wesensart der Zieloffenheit.

Damit unterscheidet sie sich fundamental von unserer modernen Technologie und unserem

niemals ermüdenden Fortschrittseifer, der stets auf eine effiziente wie haarscharfe

Zielgenauigkeit abzielt.

Den Ton für seine Skulpturen wählt der Künstler unter größter Sorgfalt aus, das Akazienholz

zum Brennen holt er aus der Villa Massimo in Rom, an der Benedikt Hipp im Jahr 2020/2021

Stipendiat war. Das zeigt den großen Wert, den er auf den geografischen Ursprung und die

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Benedikt Hipp

I GOTTA HUMAN FACE

8. September – 21. Oktober 2023

Opening: 7. September, 18-21 Uhr

biografische Bedeutung der Materialien legt, mit denen er arbeitet. Den Ofen hat er übrigens

nach Vorbild uralter traditioneller Brennöfen selbst gebaut und an seine örtlichen

Gegebenheiten angepasst.

Auch der Akt des Brennens hat für den Künstler eine persönliche und partizipatorische

Bedeutung, die beinahe einem Ritual gleicht. Versammelten sich die Menschen ja bereits in

der Steinzeit am Feuer, so wurde auch Benedikt Hipps Garten im bayerischen Finning am

Ammersee zu einem Treffpunkt für die ganze Nachbarschaft. Das Spektakel, wenn die

gleißende Flamme durch den schmalen Schornstein in den Himmel emporsteigt, scheint eine

archaische Anziehungskraft auszuüben. Die umliegenden Nachbar*innen kommen vorbei,

bringen Bier und Essen und unterstützen Hipp abwechselnd beim Brennvorgang – der

insbesondere am Ende über Stunden hinweg die volle Aufmerksamkeit erfordert. Es scheint

beinahe, als lässt die Zusammenkunft am Brennofen neue soziale Ordnungen und Systeme

entstehen.

Nach etwa 40-60 Stunden erlischt das Feuer langsam und Hipp kann die wundersamen

Objekte von Asche befreien und aus dem Ofen ziehen. Sonderbar verzerrt und organisch

wirken sie, wie abgetrennte Körperteile. Ein rundlich aufgeblasener Fuß etwa – oder Objekte,

bei denen man einfach nicht weiß, ob sie wirklich Teil dieser Welt sind oder nicht durch

unvorhergesehene Umstände auf den Planet Erde gekommen sind.

Benedikt Hipp schafft es, die Magie seiner Keramiken auf seine Malereien zu übertragen und

eine faszinierende Wechselwirkung der Dimensionen auszulösen. In seinen Bildern

akkumulieren sich scheinbar losgelöste und isolierte Körper zu neuen Formen, die sich dann

wieder auflösen und neu zusammensetzen. In einer Vehemenz, die an Francis Bacons

organische Deformationen und Verzerrungen erinnert, werden wir Zeug*innen über einen

sonderbar fluiden Zustand unserer eigenen Wahrnehmung. Beim Betrachten lassen wir

scheinbar Loses zu etwas Ganzem werden. Wenn Benedikt Hipp über seine Malerei spricht,

fällt häufig der Ausdruck der Emergenz (griech. „emerges“ = entstehen). Einzelteile, die alleine

nicht sichtbar sind, sondern sich erst in ihrer Zusammensetzung oder Verschmelzung als

Ganzes und System manifestieren.

Die Faszination für Plastizitäten sowie fragmentierte organische Formen, die zu neuen

Ordnungen verschmelzen, hat ihren Ursprung vermutlich auch in Benedikt Hipps

Familiengeschichte. Seine Vorfahren arbeiteten seit dem 16. Jahrhundert als Wachszieher und

Lebzelter. Sie stellten Votivgaben und Replika von menschlichen Organen und Körperteilen

aus Wachs her. Diese wurden damals von den Gläubigen ihren Schutzheiligen dargebracht, in

der Hoffnung auf Heilung der von Krankheit oder Unfall betroffenen Körperteile. So war

Benedikt Hipp bereits als Kind von wächsernen Körperfragmenten umgeben sowie den damit

einhergehenden Ängsten, Glaubenssystemen und Hoffnungen an die Heilung und

Neuordnung von verletzten Körpern.

Benedikt Hipp sucht für seine Werke meist immer einen Titel. Nicht etwa um den

Betrachter*innen bei der Zusammensetzung eigener Strukturen im Wege zu stehen oder zu

beeinflussen. Ihm hilft es vielmehr selbst, einen Zugang zum Bild zu finden. Es gibt keine

bestimmte Narrative in seinen Arbeiten, aber sind seine Titel doch immer bezeichnend für den

Kosmos, in dem er sich befindet, als das Werk entstand. Und oftmals zeigt sich dadurch, dass

Themen wie Vernetzungen, Strukturen, Mauern und das Fluide immer wieder auftauchen.

Formation (2023) oder Diapir (2023) etwa beziehen sich auf die zu Beginn erwähnten

geologischen Strukturen, die im Inneren des Erdmantels entstehen und als neue Formationen

emporsteigen.

Es fällt schwer, Benedikt Hipp in eine Schublade zu stecken. Er ist kein Bildhauer, kein

Surrealist, kein abstrakter und kein figurativer Maler, kein Zeichner, kein Konzeptkünstler und

doch alles auf einmal und viel mehr noch. Werden wir in der Kunst und ganz allgemein als

Gesellschaft dazu erzogen, stets in Kategorien zu denken, hilft uns Hipp dabei, diese zu

überwinden und außerhalb bestehender Grenzen zu denken.Er möchte Systeme entstehen

lassen, die anders funktionieren und über die bestehenden starren Ordnungen hinweg

wachsen, neue Physiognomien, das Gesicht eines neuen Gesellschaftssystems – a new

human face.

Seine wunderbar zeitlosen und beinahe aus der Zeit geratenen Arbeiten erscheinen uns

gleichzeitig so aktuell, werden sie doch zu Momentaufnahmen unserer ganz individuellen

Wahrnehmung. Wie und was sehen wir? Wie können wir Einzelnes zusammensetzen und

neue Systeme entstehen lassen?