Pneumopathologie und Dividualität, 2015, Dr. Jörg Scheller (deutsch)

Pneumopathologie und Dividualität

Zur Auseinandersetzung mit dem Menschenbild der Moderne im Werk Benedikt Hipps

Der moderne Mensch hatte einen Namen. Einen Geburtstag. Eine Körpergröße. Eine Adresse. Eine Nationalität. Einen Lebensstil. Eine Lieblingsmarke. Eine Blutgruppe. Einen Fingerabdruck. Eine Steuernummer. Kurz: eine Identität. Er war gekennzeichnet als operativ geschlossenes System, das sich aus qualitativ und quantitativ bestimmbaren Komponenten zusammensetzt. Deren Summe machte ihn zu etwas Einmaligem – zu einem »Subjekt«, das sich den es konstituierenden Merkmalen entwerfend unterwirft; zu einem »Individuum«, dessen interne Organisation und Relation der Teile nach Unteilbarkeit verlangen; zu einem »Selbst«, dessen Identität aus der Verschiedenheit von anderen Lebewesen und Nicht-Lebewesen wie auch dem spezifischen Reflexionsverhältnis zu seinen mit letzteren geteilten Eigenschaften entspringt. Der moderne Mensch, der sich erst aus seinen transzendenten, dann transzendentalen Beziehungen löste, war selbstreferentiell: Im horizontal gegliederten Raum der Immanenz integrierte er das Andere nur insofern, als es sich als anschlussfähig erwies und selbst in der Diversifikation des Selbst der Selbsterhaltung diente.

Im Werk von Benedikt Hipp zeichnete sich früh eine Kritik jener modernen Konzepte und Vorstellungen von Individualität, Identität und Autonomie des Subjekts ab. Anfänglich konkretisierte sie sich in seinen Gemälden und Zeichnungen vermittels wiederkehrender, von Schatten, Ornamenten, Farbflecken oder Masken überlagerter Gesichter, die ich an anderer Stelle als »In-dentifikationsfiguren« bezeichnet habe: Figuren, die nicht identifiziert werden können und die eine Identifikation seitens der Betrachter erschweren (etwa Poly, 2009; Unter den Augen, 2009/2010). Waren diese Figuren, im virtuellen Raum des Bildes, zwar oft mit geometrisch-abstrakten oder architektonischen Elementen verwachsen, also hybride, heteronome Wesen, so handelte es sich dennoch um Einzelne, denen das entsprechende Einzelbild – flach, rechteckig, abgegrenzt gegen die Umwelt – kongenial war.

In den letzten Jahren ist Hipp dazu übergegangen, die Grenzen des Einzelbildes und der Einzelfigur zu sprengen und zunehmend plastisch-installativ zu arbeiten. Dabei bezieht er, neben den gewohnten Gemälden und Zeichnungen, sowohl Skulpturen, Collagen, Assemblagen, Abformungen und elektronische Medien als auch vorgefundene Gebrauchsgegenstände (objets trouvés, ready-mades) mit ein (etwa Sunk, 2012). Seine Gemälde und Zeichnungen sind ebenfalls vielschichtiger geworden. Boten seine Figuren bis vor kurzem nur ihre Oberflächen dar, so geht es nun hinunter bis in die tiefsten Fasern des Fleisches (Großes Fleischopfer, 2013). Mehr und mehr besteht Hipps Kunst aus Gefügen, die in parcoursartigen Anordnungen Prozesshaftigkeit evozieren. Auffächerung, Pluralisierung, Komplexitätssteigerung, Verkettung und Kombination sind nun die maßgeblichen Tendenzen. In Ich habe meinen Augen nicht getraut, auch meinen Ohren nicht erreichen sie einen vorläufigen Höhepunkt – nicht zuletzt, was Hipps Auseinandersetzung mit dem Menschenbild der Moderne betrifft. Dass er mit Blick auf seine jüngeren Ausstellungen von »Pilgerwegen« spricht, ist in dieser Hinsicht von Belang. Ein Pilger verschreibt sich dem peregrinari, dem »in der Fremde sein«. Hat er auch ein Ziel – einen heiligen Ort, einen gewissen Geisteszustand –, so konfrontiert er sich doch auf seiner Reise unweigerlich mit Anderem, Neuem, Unerwartetem, ja er wird selbst zum Fremden. Er zieht nicht aus, um er selbst zu bleiben – Odysseus etwa veränderte sich auf seiner Odyssee nicht –, sondern um sich selbst im Anderen, sich selbst als Anderen, das Andere im Selbst oder vice versa zu erleben. Ein Buch über Pilger trägt den treffenden Titel Sich fremd gehen. Hipps (Pilger-)Weg hin zu Ich habe meinen Augen ... führt vom Ich zur Welt, vom Einzelnen zum Vielen, von der Isolation zur Verkettung, von der Statik zum Prozess, vom virtuellen Raum des Bildes in den konkreten Raum der Betrachter. Es liegt auf der Hand, dahinter eine Intensivierung der in Hipps frühen Arbeiten angelegten Individuumsskepsis zu vermuten. Wenn man so will, ist Hipps Kunst in den letzten Jahren insofern immer »dividueller« geworden, als sie sich auf die assoziativen Beziehungen und Spannungsverhältnisse zwischen vernetzten Einzelelementen konzentriert, letztere aber nichtsdestotrotz in ihrer Singularität bestehen lässt. Anschaulich wird das etwa in den durch ein Gestänge verbundenen Objekten der Installation Entorganisierter Tresterraum (pneumopathologic studies), 2015. Nicht die »Kommunion«, sondern die Vernetzung der Einzelelemente ist Gegenstand dieser Arbeit. So unterschiedliche Objekte wie Gemüse (Schlangenkürbis), ready-mades (Boje, Nieren-Teller) und aufwändig gestaltete, an ausgehöhlte Rümpfe erinnernde Plastiken, denen ein aus Leuchtstoffröhren geformter, wie im Atemrhythmus aufleuchtender Brustkorb korrespondiert, teilen sich hier nicht nur einen gemeinsamen Raum, sondern einen gemeinsamen Bezugsrahmen. In seinem Buch Dividuum. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Band I (2015) entwickelt der Philosoph Gerald Raunig, anknüpfend an die theologischen Reflexionen des Scholastikers Gilbert de Poitiers (1080–1155) und an die poststrukturalistische Philosophie von Deleuze und Guattari, einen Begriff des Dividuums, dessen zerfranste Konturen Ähnlichkeiten mit den erwähnten Aspekten der Arbeiten Hipps aufweisen: »Tendiert der Begriff der Individualität zur Konstruktion der Abgeschlossenheit, betont die dividuelle Singularität die Ähnlichkeit in den verschiedenen Einzeldingen, damit auch die Potenzialität des Anschlusses, des Anhängens, der Verkettung.« Dass gerade der Deleuze-Rezipient Raunig sich über die mittelalterliche Scholastik einem zeitgenössischen Verständnis des Dividuellen nähert, ist, wie wir noch sehen werden, vielsagend. So schlüssig es ist, Hipp vor dem Hintergrund des aktuellen Diskurses über das Dividuelle oder von Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie zu verorten, muss man dafür doch einen Umweg einplanen. Hipp steht in seiner Skepsis gegenüber der westlichen Moderne (Fortschrittsglaube, Anthropozentrismus, Technokratie) und in seinem Unbehagen an den Folgen des Kapitalismus (Homogenisierung, Ökonomisierung) postmodernen Denkern wie Raunig zwar nahe. Auch Derrida und Deleuze zählen zu seinen Einflüssen, was im Hinblick auf Ich habe meinen Augen ... nicht überrascht: »Wie Michel Foucault und andere hält er [Deleuze] dafür, dass das künstlerische Handeln dank seiner Neukombination sinnlicher Zeichen und deren bislang ungedachter Sinnstiftung das Gesellschaftlich-Unbewusste einzubringen und neu zu artikulieren imstande ist. Ein Kunstwerk verdiene seinen Namen gerade nach Maßgabe dessen, wie vielfältig es sich von gesellschaftlichen Äußerungen durchqueren und in seiner formalen Begrenzung von Innen aufsprengen lässt.« Doch Hipps Moderne- und Individuumsskepsis speist sich auch aus anderen, älteren Quellen. Eine Schlüsselfigur zum Verständnis der dividuellen Aspekte von Hipps Werk ist der von ihm rezipierte und geschätzte Philosoph Eric Voegelin (1901–1985) und damit ein Denker, der sich nicht nur für die horizontale Ausdehnung des Rhizomatischen interessierte, sondern auch für die Unhintergehbarkeit der Vertikalspannung im transzendenten Sinne einstand.

Voegelin warnte schon in den 1930er Jahren öffentlich vor dem Rassenwahn der Nazis, erinnerte die deutschen Bürger in den 1950er Jahren als Ordinarius für politische Wissenschaft in München an ihre Mitschuld an den Gräueln des Dritten Reichs, interpretierte die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts als Ersatzreligionen und diagnostizierte eine »pneumopathologische Deformation« im Geist der Moderne. Die Ausblendung der alten Religionen und Metaphysiken sowie ein falsches Verständnis des Individuums führten laut Voegelin zur Entstehung eines »kontrahierten Selbst« (etwa Fichtes und Stirners »Ich« oder Sartres »moi«), das beständig neue, immer radikalere Imaginationen auf die Realität projiziert und so zu mal schwelenden, mal eskalierenden Konflikten zwischen individuellen Wunschgebilden, der Realität intersubjektiver Erfahrung und der Persistenz des Göttlichen führt. Für Voegelin, der die antike politische Philosophie (Platon, Aristoteles) mit dem christlichen Glauben (Transzendenzerfahrung, Erlösung erst im Jenseits) kurzschloss, bestand der Sündenfall der westlichen Moderne darin, »die Spannung des Menschen in Richtung auf den göttlichen Grund seiner Existenz«, in Voegelins Terminologie die »erste Realität«, zu ignorieren und nurmehr in der »zweiten Realität«, der Realität von innerweltlichen Projektionen und Konstruktionen, zu manövrieren. Als Voegelins Albtraum muss man sich Pippi Langstrumpfs heimliche Hymne auf den modernen Nachfolger des Schicksals, das »Machsal« (Odo Marquard), vorstellen: »2 x 3 macht 4 / Widdewiddewitt und Drei macht Neune / Ich mach' mir die Welt / Widdewidde wie sie mir gefällt.«

Bemerkenswerterweise war Voegelin zwar ein Konservativer, aber kein Reaktionär und Fortschrittsfeind. Er lehnte Dogmatik, Systeme und Ideologien ab, revidierte sein eigenes Werk immer wieder. Sein Konservatismus speiste sich aus dem, was er »moderne Gnosis« nannte – soziale Entfremdung, Entrücktheit, Allmachtsphantasien respektive konkrete Machtentfesselung. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Hipp für seine Arbeiten sowohl deutsche, an Heideggers raunend-atavistisches Vokabular erinnernde Titel gebraucht (Gestell und Kopf, 2011; Paraleut # B, 2011; Wegaufnehmer (Zeichner), 2012) als auch englische, teils humorvolle (The Secret, 2007; App for replacement characters, 2014). Bisweilen kombiniert er sie sogar, etwa in Mother fuck the fear is back (Selbstverhör und Selbstverseh), 2014. Die sich im Subtext dieser Titel abzeichnende Engführung von alteuropäischem Hang zur Tiefe und dem Pragmatismus und Optimismus der ,neuen Welt' war typisch auch für das Denken Eric Voegelins. Geboren wurde er in Köln als Erich Vögelin. Nach seiner Flucht vor den Nazis und der Emigration in die Vereinigten Staaten, wo er vom intellektuellen Niveau der academia positiv überrascht war, passte er seinen Namen der englischen Sprache an, vollzog also nominell die Synthese von alter und neuer Welt.

In seinen Schriften berief sich Voegelin auf die common sense philosophy Amerikas und lehnte alle hochtrabenden Prophetien und Heilsversprechen ab, hielt aber zugleich an seinem in Deutschland und Österreich vor dem Zweiten Weltkrieg erworbenen Habitus des mahnenden, religiös-humanistischen Geisteswissenschaftlers fest. 1951 sagte er in einem Vortrag in Chicago: »In dieser Situation [der Gefahr für die Zivilisation] gibt es einen Hoffnungsstrahl: Denn die amerikanischen und englischen Demokratien, die in ihren Institutionen die Wahrheit der Seele am stärksten repräsentieren, sind gleichzeitig auch existentiell die stärksten Mächte.« Das ist beachtlich, diffamierten damals doch europäische Geisteswissenschaftler Amerika und England häufig reflexhaft als Horte des Seelenlosen, des Oberflächlichen, des schnöden Materialismus. Kurz, Voegelin passte in keine Schublade. Postmodern waren sein Hang zum Unbestimmten und seine Affinität zur angloamerikanischen Welt, modern sein Hang zur Kultur- und Zivilisationskritik, vormodern sein Hang zu Mystik und Spiritualität. Gerade als Christ kritisierte er die institutionalisierte christliche Kirche und betonte: »Ungewissheit ist das eigentliche Wesen des Christentums.« Auch Hipps Position in der zeitgenössischen Kunst lässt sich schwer bestimmen. Mit seinen unübersehbaren stilistischen Bezugnahmen auf die Klassische Moderne korreliert kein utopischer Geist; seiner postmodernen Seite fehlt das frivole, ironische Element; die religiösen Referenzen kommen ohne ein Bekenntnis daher. Er ist durchaus betriebsam, aber kein Kind des Betriebs. Seine Arbeiten sind oft dunkel und raunend, doch sie gleiten nicht ins Esoterische ab. Nicht zuletzt deuten seine handwerkliche Sorgfalt und technische Präzision auf eine eher geerdete Einstellung hin. Methodisch vergleichbar mit Voegelin knüpft Hipp an das Band von Mythos, Religion, Spiritualität und Zivilisationskritik an – man beachte die Referenzen auf Votivgaben, Rituale und Kulte (etwa 2-Figuren (Ritual), 2013) –, ohne es mit gnostisch-apokalyptischen Spekulationen und Konstruktionen – die heute auch in Gestalt warenförmig-posthumanistischer Techno-Utopien auftreten – zu verstärken. Die Mentalitäten Voegelins und Hipps ähneln sich dahingehend, dass sie das Unbehagen an der Moderne und ihrem sidekick, dem »kontrahierten Selbst«, weder in eindeutig antimodernistische Gegenentwürfe im Sinne einer Rekonstruktion der ,guten alten Zeit' – man denke etwa an Hans Sedlmayrs angestrebte

1 Siehe Jörg Scheller, »Ausstieg ins Bild. Bildwissenschaftliche Bemerkungen zum malerischen und grafischen Werk Benedikt Hipps«, in: Benedikt Hipp. Luxstätt (Ausst.-Kat. Kunstpalais Erlangen), Berlin: Distanz Verlag, 2013.

2 Detlef Lienau, Sich fremd gehen. Warum Menschen pilgern, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 2009.

3 Gerald Raunig, Dividuum. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Band I, Wien: transversal texts, 2015, S. 83.

4 Michaela Ott, »Ästhetische Politiken«, in: kritische berichte, Heft 1, 2010, Jahrgang 38, S. 102.

5 Für einen kompakten Einstieg in Eric Voegelins Konzept der Pneumopathologie und des kontrahierten Selbst siehe ders., Realitätsfinsternis, Berlin: Matthes & Seitz, 2010.

6 Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, München: Wilhelm Fink, 2004, S. 196.

7 Siehe Bert Rebhandl, »Ein Alibi für Dummheit«, 1. September 2006, auf: http://derstandard.at/2564845/...: »Voegelin erfuhr viel Widerspruch für seine Kritik der Modernität. Dabei wäre es durchaus möglich, diese selbst zu ,säkularisieren', sie aus dem dogmatischen Bezugsrahmen des Christentums herauszulösen und mit der postmodernen Kritik an jeder Geschichtsphilosophie in ein Gespräch zu bringen.«

8 Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 133.

9 Hans Sedlmayer, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Frankfurt a. M.: Ullstein, 1977, S. 189.